Zauberpilze - Ein Selbstversuch



Im November 1998, es fiel schon der erste Schnee, fand ich in der Nähe von Karlsruhe an einem Waldrand eine stattliche Kolonie (über 100 Exemplare) von kleinen Blätterpilzen in allen Altersstadien. Die Hüte waren haselbraun in feuchtem Zustand, leicht schmierig, am Rand kurz gerieft. Trocken blassten sie ins Ockerliche aus und die älteren Exemplare zeigten deutliche blaue bis grünblaue Flecken. Auffallend war der stark wellig verbogene Hutrand der älteren Pilze. Die Stiele waren weisslich, steif und faserig, fast rüblingsartig, ebenfalls bei Berührung stark blauend. Ihre Basis war mit dem Substrat (Holzstückchen und kleine Äste) durch auffallende weissliche bis bläuliche Rhizomorphen verbunden. Meine erste Vermutung ging sofort in Richtung Blauender Kahlkopf (Psilocybe cyanescens), der in Deutschland allerdings extrem selten sein soll. Die braunen, ausgebuchtet angewachsenen Lamellen liessen keinen Hinweis auf die Sporenfarbe erkennen. Ich nahm einige Exemplare aller Altersstufen mit nach Hause und fertigte einen Sporenabdruck an. Dieser stellte sich als dunkelpurpurbraun bis fast schwärzlich heraus. Die restlichen Exemplare trocknete ich für eine spätere Untersuchung, da ich (noch) kein Mikroskop besitze. Vergleich meiner Beobachtungen mit Beschreibungen in diverser Literatur (z.B. Stamets und Phillips) sowie im Internet (Mykoweb) liessen meine Vermutung zur Gewissheit werden. Ich hatte den im Verbreitungsatlas der Grosspilze Deutschlands nur an einer Handvoll Fundstellen (die darüberhinaus z.T. Jahrzehnte alt sind) markierten Blauenden Kahlkopf gefunden!
Als Pilznarr (seit über 20 Jahren) waren mir natürlich die halluzinogenen Eigenschaften einiger europäischer Psilocybe-Arten bekannt. Den Wunsch, die Sache mal auszuprobieren, hatte ich schon länger. Der Spitzkegelige Kahlkopf (Psilocybe semilanceata) war mir zwar zuvor schon einige Male im Schwarzwald begegnet, aber nie in größeren Stückzahlen. Nun hatte ich also eine Handvoll 'Belegexemplare' von der in der Literatur als stark halluzinogen eingestuften Psilocybe cyanescens vor mir liegen. Ich beschloss einen Selbstversuch zu wagen: Ich nahm eines abends ca. 15 der trockenen kleinen Pilze und zerkleinerte sie in einer Kaffeemühle zu Pulver. Dieses (ca. 3 Teelöffel) kam in ein Glas mit Milch und Instantkakao. Ich hatte die Aktion mit meiner Freundin besprochen (sie sollte auf mich aufpassen) und um kurz nach Mitternacht trank ich die etwas modrig-bitterlich schmeckende Flüssigkeit und spülte mit Wasser nach. Wir gingen in mein Zimmer und legten uns aufs Bett. Es war 0:10 Uhr und ich begann zu frösteln, obwohl mein Thermometer mehr als 20 Grad anzeigte; vielleicht eine Reaktion des Körpers auf die Ungewissheit, was da wohl kommen mag. Ich deckte mich zu und wartete einfach. 0:30 Uhr: Alles war wie immer, auch die vielfach beschriebene Übelkeit stellte sich nicht ein. 0:45 begann ich daran zu zweifeln, ob die Pilze überhaupt Wirkstoffe enthalten, als sich mir auf einmal das Muster der Tapete in absoluter Klarheit präsentierte. Es wirkte fast hypnotisch in seinem sich ständig wiederholenden Muster. Meine an der Wand hängenden Poster schienen in der Wand zu versinken und erschienen wie aufgedruckt. Die Farben der Bettdecke leuchteten deutlich intensiver und greller. Im Hintergrund hörte ich ein leises, konstantes Sirren. Meine Freundin bemerkte meine extrem geweiteten Pupillen. Also wohl doch eine Wirkung!
Verwundert starrte ich die Wände an. Meine Gedanken drifteten immer mehr ab. Ein paarmal hörte ich ein ziemlich lautes Surren, als flöge ein Insekt dicht an mir vorbei, allerdings ein irgendwie synthetisch klingender Ton. Bei geschlossenen Augen sah ich aus Rauten zusammengesetze fraktale Muster, überwiegend in Blautönen, aber nicht sehr intensiv. Plötzlich fühlte ich mich kurzzeitig wie ein alter Mann, der auf seinem Bett liegt. Ich kam mir vor als würden ganz tief im Inneren liegende Gefühle freigelegt. Die Stimmungen wechselten jetzt immer schneller. Merkwürdig auch die Veränderung des Erlebens im Kopf. Der Gedankenfluß war nicht mehr nur die gewohnte Abfolge von Worten, sondern dazu gesellten sich 'monströse' Gebilde, die ich kaum beschreiben kann. Ich schloss die Augen und gab mich dem zunehmenden Chaos hin. Einmal schaute ich auf die Digitaluhr: 01:48. Die Zahl 48 wurde daraufhin kurz Bestandteil meines Denkens. Sie grub sich richtiggehend in meine Gedanken ein. Das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos fraß sich in mich hinein und war auf einmal ein Teil von mir, nicht unterscheidbar vom Rest. Langsam kamen Angstgefühle auf, mir entglitt das Ganze. Augen auf: Mein an der Decke hängendes Flugzeugmodell drehte sich mir zu und stieg hernieder, ebenso wie die Lampen. Das Gesicht meiner Freundin war von farbigen Schlieren überzogen. Schnell schloss ich die Augen wieder. Ich versank im wirbelnden Strom der Eindrücke. Das Zeitgefühl ging immer mehr verloren. Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaute, war es 02:30. Die gewohnte Realität hatte sich aufgelöst. Ich konnte nicht mehr sagen wo und wann ich mich aufhielt. Ich hielt mich an meiner Freundin fest, als letzten Bezug zur 'wirklichen' Realität und tauchte wieder ein in die Innenwelt. Mein Zustand war unbeschreiblich. Das Zeitempfinden war völlig verschwunden. Ich schaute ab und zu auf die Uhr, konnte aber nichts damit anfangen. Es war so als wären seit dem letzten mal endlose Zeiträume vergangen. Das einzige, was ich mir immer wieder klarzumachen versuchte war, dass nach 4 Stunden alles vorbei sein sollte. Aber was bedeuten 4 Stunden wenn es keine Zeit gibt? Phasen der Panik wechselten mit positiven Stimmungen ab. Ich versuchte mich krampfhaft daran zu erinnern, wieviel Pilze ich denn genommen hatte. Es war unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Langsam stieg in mir die Gewissheit auf, dass ich mir zuviel zugemutet hatte und endgültig verrückt geworden war. Teilweise aber genoß ich auch die mich überflutenden Eindrücke. Ich sah sich ausbreitende Pilzkolonien, hatte Einblicke in die Funktionsweise des Gehirns (dachte ich wenigstens) und musste teilweise auch lachen. Im Hintergrund machte sich ein treibender, stampfender und monotoner Rhythmus bemerkbar, ähnlich einem Technotrack. Allerdings nicht rein akustisch sondern gleichzeitig auch 'gedankig'. Irgendwann nach 4 Uhr wollte ich nur noch dass es endlich aufhört. Die selbstauferlegte Durchhalteparole (' noch 1 Stunde') erschien mir mehr und mehr sinnlos, da ich fürchtete komplett in einer anderen Realität zu sein, in der die Zeitangaben der 'echten' Realität keine Bedeutung mehr haben; in der 1 Sekunde = unendlich ist. Da würde alles Warten nichts helfen . Ich versuchte krampfhaft, die Augen offenzuhalten, und mich an dem Gesehenen als der vermeintlichen echten Wirklichkeit festzuhalten. Unmöglich. Immer wieder erwies sich alles als Illusion, als falsche Realität, die mich wieder verschlang. Meine Hand erschien mir wie die Klaue eines Monsters, die Haare auf dem Handrücken tierhaft. Ich führte die Finger zusammen. Wie Wachs durchdrangen sie einander. Mein auf meine Stirn gelegter Arm, schien in mich hineinzuversinken. Die optischen Effekte waren zu diesem Zeitpunkt schwächer, alles passierte in meinen Gedanken. Irgendwie hatte sich die Blauverfärbung der Pilze als 'Blauheit' in den Trip geschlichen: Blau nicht nur als Farbe, schwer zu beschreiben. Ich wusste nicht, wie meine Freundin die Sache erlebte: ich malte mir Horrorvisionen von gleich hereinkommenden Notärzten aus, die sie vielleicht gerufen haben könnte weil sie nicht mehr weiterwusste. Ich hatte mir vorgenommen nun einfach nur noch zu warten egal wie lange es dauern sollte.
Das Ende kam dann abrupt als ob ein Schalter umgelegt würde: Um 04:41 schaute ich auf die Uhr und dachte: Oh nein, immer noch gefangen, und entglitt wieder. Um 04:51 öffnete ich die Augen und schaute kurz umher. Ich war mir zunächst nicht sicher, ob ich wieder aufgesogen werde. Aber nichts geschah. Ich setzte mich auf und alles war normal. Ich konnte es kaum fassen, daß so eine Wirkung überhaupt möglich war. Die totale Realitätszerstörung. Meine Freundin meinte auf meine Frage hin, was denn los gewesen sei nur: "Nichts weiter, Du hast nur ständig auf die Uhr geschaut und dich nach der Uhrzeit erkundigt". Es war für mich kaum nachzuvollziehen, nachdem was ich durchgemacht hatte. Ich war total nassgeschwitzt.
Wir legten uns wieder hin. An Einschlafen war aber nicht zu denken. Zu aufgedreht war ich noch. Ich kam mir vor, als wäre ein Tornado durch mein Hirn gebraust. Der 'Technorhythmus' hallte immer noch nach, wie der Klang eines fremden Wesens. Ich versuchte mir etwas vorzustellen: Einen Wald mit schönen Laubbäumen. Das gelang nur halb, die Bäume waren mit merkwürdigen Ornamenten verziert. Aber wenigstens war ich wieder in meiner gewohnten Welt.
Am Tag war ich noch etwas seltsamer Stimmung aber insgesamt alles sehr positiv. Keinerlei negative Nachwirkungen waren zu beobachten. Allerdings konnte ich auch am Nachmittag noch nicht einschlafen. Das Erlebte beschäftigte mich zu sehr. Erst am abend schlief ich wie ein Stein, fest verankert in der 'einzig wahren' Realität.

Fazit: Ein teilweise beängstigendes aber auch ungemein interessantes Erlebnis. Allerdings hatte ich die Macht der Pilze gewaltig unterschätzt. Etwaige geplante Selbstversuche sollten daher bestens vorbereitet (Die richtige Pilzart(!), Menge der Pilze, Gute Stimmung) und auf keinen Fall alleine unternommen werden. Warum diesen Pilzen von verschiedenen Indianervölkern Zauberkräfte zugeschrieben wurden ist mir nun sehr eindrucksvoll klar geworden.



©Georg Müller, 11.01.1999


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